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Christa Jakob über den jüdischen Friedhof und die Gedächtnisstätte in Mistelbach

Foto zur Verfügung gestellt: Brigitte Kenscha-Mautner vor einem Gemälde von Dr. Jonas Schläfrig

Foto zur Verfügung gestellt: Zeugnisse von Dipl.-Ing. Gustav Schläfrig von der Technischen Hochschule Wien

Foto zur Verfügung gestellt: Feldpostkarten von Emma Frischmann an ihren Mann Hermann

25. März 2021

Viele Jahre wurde die Existenz des jüdischen Friedhofs von der Bevölkerung in Mistelbach kaum wahrgenommen, obwohl er von der StadtGemeinde Mistelbach gut gepflegt wurde. 140 Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Die 124 existierenden Grabsteine zeugen deutlich die Tendenz der Einzelbestattung.

Die ehemalige jüdische Gemeinde ist untrennbar mit der Stadtgeschichte Mistelbachs verbunden. Je weniger über das Schicksal der ehemaligen jüdischen Gemeinde gesprochen wurde, desto mehr entwickelte sich mein Interesse daran. Ich lernte Grete Stern aus Israel kennen, sie wurde meine Mentorin und im Laufe der Zeit verband uns eine tiefe Freundschaft. Mit ihrer Hilfe konnte ich 2002 im Barockschlössl eine Ausstellung mit dem Titel „Verdrängt und Vergessen“ präsentieren, zu der auch das gleichnamige Buch erschien. Die Zahl der Besucherinnen und Besucher war enorm. Bald entwickelte sich ein jüdischer Freundeskreis aus überlebenden Mistelbachern bzw. deren Nachkommen, den Bogen überspannend von Südamerika bis Australien. Das leerstehende Haus am israelitischen Friedhof war bestens geeignet, die Exponate dort unterzubringen, aber Schwierigkeiten machten diesen Plan zunichte.

Ende April 2018 wurde die Gedächtnisstätte nach 16 Jahren Wartezeit genehmigt. Es war klar, dass die Exponate überarbeitet und ergänzt werden mussten. Das Haus wurde von der StadtGemeinde Mistelbach renoviert. Mit meiner Tochter Brigitte Kenscha-Mautner und Heinz Eybel bildeten wir ein gutes Team, das mit vollem Herzen an die Arbeit ging.

Vor allem wollte ich das Leben und Wirken unserer einstigen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die für den Aufschwung der StadtGemeinde Mistelbach tatkräftig mitgewirkt haben, präsentieren, letztendlich die Shoa. Heinz Eybel leistete hervorragende graphische Arbeit, Brigitte Kenscha-Mautner entwickelte sich zur Ideenbörse und überarbeitete meine Texte.

Am 11. November 2018, nahe dem Gedenken an die Pogromnacht, wurde die Gedächtnisstätte mit 250 bis 300 Besucherinnen und Besucher feierlich eröffnet. Das Werk konnte sich sehen lassen. Im Rahmen von Führungen durften wir schon viele Besucherinnen und Besuchern begrüßen, die beeindruckt ihre positive Rückmeldung äußerten.

Für mich war das Beeindruckendste die Rückmeldung von Nachkommen unserer einstigen jüdischen Mitbürger, die mich in Jerusalem zu Tränen gerührt hat. „Dank Ihrer wunderbaren Arbeit können heute Menschen auf ansprechende Weise etwas über die ehemalige jüdische Gemeinde aus Mistelbach erfahren, nicht nur durch Lektüre trockener Fakten aus alten Archiven. Wir wissen aus Erzählungen unserer Eltern, dass ihre Zeit in Mistelbach von Bedeutung, aber auch nicht immer leicht war. Wir danken für Ihren unermüdlichen Einsatz. Sie sind ein Symbol des Lichts, können die Dunkelheit vertreiben, und Frieden bringen.“ Das war für mich die Bestätigung, wie wichtig meine Arbeit war, und ich bin sehr froh, dass ich in meiner Tochter eine perfekte Nachfolgerin habe, die mein Werk weiterführt.

Nach mehr als 100 Jahren heimgekehrt:
Dr. Jonas Schläfrig, geb. 1833 in Zolkiew in Galizien, promovierte 1857 in Lemberg. Von 1894 bis 1910 war er praktischer Arzt, Gemeindearzt und Oberwundarzt in Mistelbach, Hauptplatz 12, sowie Matrikenführer der israelitischen Kultusgemeinde Mistelbach. Die Familie war gut situiert, alle sechs Kinder studierten.

Eines Tages kam ein Patient zu Dr. Schläfrig in die Ordination am Hauptplatz 12. Er war sehr krank, hatte aber kein Geld für Untersuchung oder gar für Behandlung. Der Doktor behandelte ihn umsonst, bis er wieder gesund war. Nach einigen Wochen kam der genesene Patient zum Doktor, er brachte ihm als „Dankeschön“ ein Gemälde. Der Patient, von Beruf Maler, hatte statt der Bezahlung den Arzt gemalt. Dr. Schläfrig freute sich sehr, war aber der Meinung, dass er in Wirklichkeit etwas freundlicher aussah.

Dieses Gemälde war im Besitz von seiner Enkelin Helga Schläfrig, die im Juni 2020 verstorben ist. Ihr Neffe, Kurt Huber, stieß auf unsere Korrespondenz und stellte das Gemälde sowie die Zeugnisse von Gustav Schläfrig, 5. Kind des Doktors, der Gedächtnisstätte Mistelbach zur Verfügung. Meine Tochter brachte diesen Schatz sofort nach Mistelbach. Leider ist uns der Name des Künstlers nicht bekannt.

Wer war Gustav Schläfrig?
Dipl.-Ing. Gustav Schläfrig, geboren am 31. Mai 1881 in Mistelbach am Hauptplatz 12, wurde Architekt. Seine vorzüglichen Zeugnisse der Technischen Hochschule Wien, dankenswerter Weise von Kurt Huber überlassen, sind nun ebenfalls in unserer Sammlung.

Er leistete Kriegsdienst im 1. Weltkrieg, zwischen 1908 und 1932 sind viele Bauten in Österreich, wie Sozialwohnbauten, Werk- und Beamtensiedlungen, Ein- und Mehrfamilienhäuser in Österreich dokumentiert. Die größte Wohnhausanlage wurde in Hallein errichtet. Ab 1934 musste er sein Architektenbüro in Wien aufgeben, sein Mitarbeiter war plötzlich verschwunden. Dank seiner katholischen Frau hatte er die schwere Zeit von 1938 bis 1945 in Wien als Hausmann mit „Kartoffelschälen“ überlebt.

Seine Tochter Helga Schläfrig war Organistin in der Pfarrkirche St. Ulrich in Wien. Die Aufarbeitung und Dokumentation ihrer Familie führte sie nach Mistelbach. Es war eine berührende Begegnung, ihr das Leben der Großeltern mit allem was ihnen in ihrem gelebten Judentum wichtig war, zu erzählen.

Auch Susy Frischmann aus Buenos Aires besuchte die Gedächtnisstätte in Mistelbach und war sehr gerührt über die Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte. Ihr Vater, Hans Frischmann, führte ein Schuhgeschäft am Hauptplatz 31. 2002 schrieb er an die StadtGemeinde, dass er in Buenos Aires durch Zufall über die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte erfahren hatte und gerne Informationen darüber hätte.

Durch den Kontakt mit ihm bekam ich Einblick in sein Schicksal. Der Wille zum Überleben war die Grundlage für seine Arbeit, bis er schlussendlich in Buenos Aires eine Schuhfabrik gründete und die österreichische Firma Delka, die in Mistelbach am Hauptplatz eine Niederlassung hatte, mit seinen Waren belieferte. So war es möglich, hier wieder Frischmann-Schuhe zu kaufen. Seine Tochter Susy arbeitet mit ihrer Familie in der Firma. Mit einem Wiener Bekannten schickte sie die Feldpostkarten ihrer Mutter aus dem 1. Weltkrieg für unsere Ausstellung. Emma Frischmann schrieb ihrem Mann Hermann ab 1915 eineinhalb Jahre Feldpostkarten nach Russland ohne zu wissen, dass ihr Mann bereits 1915 verstorben war. Die Karten an den Toten landeten in einem Sack, der 1917 geöffnet wurde. 1917 erhielt sie die Todesnachricht und ihre Post, die sie ihrem Mann geschrieben hatte. Nun sind auch sie nach Mistelbach heimgekehrt…

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